Jörn Petersen

Konversation gefällig … ?

Posted in Am Anfang meines Lachens, Am Ende meiner Würde, Literarischer Journalismus, Portraits by Jörn Petersen on August 5, 2009

Wieder einmal schlenderte ich über den Ostfriedhof meiner Kindheitsträume. All die ehemals fröhlichen Wünsche und unschuldigen Illusionen von damals hatten hier schon lange ihren endgültigen Platz und ihre ewige Ruhe vor mir gefunden. Von der Stelle bewegen wollten sie sich nicht mehr; höchstens noch arrogant auf den herabschauen, der sich ihrer irgendwann entledigt hatte.

Da war dieser kleine Traum aus der Zeit, als ich noch ängstlich in meinem Bett die Augen fest verschlossen hielt, wenn ich meinen Vater mal wieder volltrunken nach hause kommen hörte. Während er geradezu orientierungslos ins Waschbecken pinkelnd meiner Mutter irgendwelche Vorhaltungen machte, kniff ich die Augen ganz fest zu, damit er nicht bemerken möge, dass ich noch nicht eingeschlafen war: Jetzt fliegen, wie ein Vogel, einfach nur fliegen … fliegen … frei sein.

Wie lange hatte ich meine Gedanken danach gestreckt, einfach über den Horizont zu gleiten und die Erde in all ihrer Schönheit zu genießen. Flüsse schmecken; Blumen riechen, die Sonne fühlen, den Wind auf meiner Haut spüren. Irgendwo, davon war ich felsenfest überzeugt, mußte es diese andere Welt geben. Die Welt, die nicht unter der Regentschaft der Angst steht. Angst vor jenen, die Dich doch eigentlich behüten sollten. Eben diese Welt wollte ich leben und erleben; ich war jung, voller Freude auf all das, was mich noch erwarten würde. Zwar war die Seele zart und voller Angst, aber sie war noch nicht vernarbt, sie glaubte noch fest an das Gute in dieser Welt.

Doch zumeist flog ich lediglich durch das Treppenhaus; sechs Treppen hinab, ohne die Wände oder das Geländer zu berühren, in einem halsbrecherischen Tempo. Fünfmal zwölf graue Betonstufen und die sechste Treppe hatte nur zehn Stufen. Danach schwebte ich mit voller Wucht gegen die Haustür, die mir die große Freiheit meiner Gedanken eröffnen sollte. Sie war verschlossen. Also würde ich es in der nächsten Nacht noch einmal probieren. Mein Vater würde wieder betrunken sein, und die Haustür würde wieder verschlossen sein … und wieder … und wieder … und wieder.

Schon kamen mir die großen Zweifel an der Freiheit. Wie frei ist Freiheit, und was für eine Freiheit ist das, wenn sie Dich nicht haben will? Und so nahm ich diesen Traum von Freiheit, dessen Name in dieser Welt viel zu oft mißbraucht und prostituiert wird und legte ihn zur ewigen Ruhe auf den Ostfriedhof zu den anderen.

Vorsichtig und schüchtern erlaubte ich mir bisweilen einen Besuch bei meinen alten Weggefährten. „Gewiß haben sie längst verstanden, weshalb ich sie nicht leben konnte“, aber weshalb hätten die derart Ausgestoßenen meine Fehler rechtfertigen sollen. So blieb mir nur der schale Geschmack auf meinen Lippen, weil sie sich zynisch, herablassend und voller Häme nicht mehr mit mir unterhalten mochten.